Silvia Stefka

Unterwegs beim SPIELART

Von Wrestlern, (Holz-)Puppen und Sänger*innen

Verschiedenste Aufführungsästhetiken, verschiedenste Künstler*innen aus den verschiedensten Winkeln des Globus, an verschiedenen Spielorten in München, zu einem Ganzen verknüpft, das ist das SPIELART Theaterfestival – das ist gelebter Pluralismus.

 

Zum Auftakt des Festivals lassen es Julian Warner und Veronika Maurer mit ihrem actiongeladenen Performancetheater KAMPF UM DIE STADT richtig krachen. Wir finden uns in einer Wrestlingshow wieder, mit professionellen Wrestlern im Ring, akrobatischen Cheerleadern, einer Moderatorin und einer DJane.  Per Videoübertragung sehen wir nicht nur den Kampf, sondern auch die Einführung der sechs mitwirkenden Charaktere. Diese sind hier z.B. „Kleine Leute“, beheimatet in Giesing, eine geldgierige „Vermieterin“, „die Stadt“ und weitere Protagonist*innen. Die dialektische Show führt uns durch eine Geschichte, die in jeder Großstadt spielen könnte. Gierige Vermieter*innenkündigen kleinen Leuten und reiche Investoren wollen die Stadt besiegen. Das Publikum wird, angeheizt durch Musik, buntes Licht und Nebel, aufgefordert Partei zu ergreifen und sich lautstark zu äußern. Die Zuschauer*innen werden somit Teil der Performance. Perfekt durchchoreografiert mit feinstem Slapstick. Da kommen nicht nur die Darsteller*innen ins Schwitzen.

 

Etwas Nachdenklicheres erleben wir auf der beispielhaften Reise einer Flüchtlingsfamilie, auf die wir mitgenommen werden, im Theaterstück SIMPLE AS ABC #7 THE VOICE OF FINGERS von Thomas Bellinck und Said Reza Adib. Die Grundlage hierfür bildet die Identifizierung über Fingerabdrücke, die schon zu Zeiten des chinesischen Kaiserreiches genutzt wurde. Die Erzählung beginnt mit der Geschichte über den Engländer Sir William J. Herschel, der im 19. Jahrhundert erstmals in der indischen Kolonie Fingerabdrücke einsetzte. Der Vater dieser Flüchtlingsfamilie muss als „Datensubjekt“ seine Fingerabdrücke bis zur Absurdität wieder und wieder abgeben, um in jedem passierten Land identifiziert zu werden. Zur Erinnerung an seine Heimat wird die Bühne fortwährend mit roten Tulpen „bepflanzt“. Die Langwierigkeit, die durch den Wechsel von Flucht, Abschiebung und erneuter Flucht verbunden ist, wird durch das Abzählen der Tage von einer Kinderstimme per Audio eingespielt.

 

In der Performance SHE WAS A FRIEND OF SOMONE ELSE von Gosia Wdowik wird der Kampf um das Recht auf Abtreibung in Polen verhandelt. Erschöpft und ausgebrannt durch ihren Aktivismus nimmt die Protagonistin nur passiv am Bühnengeschehen teil. Sie ist reglos und zu schwach, um sich selbst zu bewegen. Multimedial wird ihr Telegram-Chat, in dem sie verzweifelt versucht Mitstreiterinnen anzuwerben, eingeblendet, Interviews mit ihr auf Video gezeigt und auf einer großen Leinwand mit Splitscreen werden im Portraitformat viele weitere Frauen gezeigt, die über ihre eigenen Erfahrungen mit Abtreibung berichten.

 

Die Performance THE MAKING OF PINOCCHIO der schottischen Lebens- und Arbeitspartnerschaft Ivor MacAskill und Rosana Cade beschäftigt sich mit der Verwandlung MacAskills zum Jungen im Vergleich mit Pinocchio und spürt der Frage nach, was „echt“ ist. Die Entwicklung von Transpersonen wird humorvoll und multiperspektivisch dargestellt. Live-Filmübertragungen verschmelzen mit Filmaufzeichnungen, parallel zur Publikumsansprache. Wir sehen gleichzeitig das Spiel auf der Bühne mit der Verzerrung der Dimensionen im Monitor. Durch die ständige Verfolgung durch die Kamera verändert sich die Sicht auf die Person MacAskills ständig. Die Verwirrung der visuellen Betrachtung lässt uns die Komplikationen des Transformationsprozesses erahnen.

 

Das Puppentheater WHITE STORYTELLER von The Party Theater Group lässt uns auf amüsante Weise in eine tragische Geschichte eintauchen. Beleuchtet wird durch die persönliche Perspektive des Erzählers der White Terror, der im Taiwan der 1950er Jahre von der Kuomintang-Regierung an der Bevölkerung verübt wurde. Durch ein monologisches Gespräch mit seinem verstorbenen Vater, werden seine Kindheitserinnerungen an seinen (Zieh-)Vater und an seine kranke Mutter wach. Auf Basis des traditionellen chinesischen Handpuppentheaters wird der Verrat des Ziehvaters, die politische Ermordung seines biologischen Vaters durch die Soldaten und die verzweifelte Selbsttötung seiner Mutter verhandelt. Durch die Handpuppenauseinandersetzungen, untermalt mit teils traditioneller aufreibender, teils ruhiger Instrumentalmusik bekommen wir, trotz des melancholischen Themas, leichteren Zugang.

 

Die Performance 375 0908 2334. THE BODY YOU ARE CALLING IS CURRENTLY NOT AVAILABLE des belarussischen Künstlers Igor Shugaleev beeindruckt durch ihre bedrückende Einfachheit. Zur dokumentarischen Audioeinspielung über die Unruhen und Massenverhaftungen im August ´21 in Belarus aufgrund der gefälschten Wahlen 2020, demonstriert der Performer eine der Methoden der weißen Folter (Folter ohne Spuren zu hinterlassen) an seinem eigenen Leib - eine starre Haltung, mit dem Gesicht an die Wand gelehnt und erhobenen Händen. Damit will er seine Landsleute bei deren Protest unterstützen. Durch sein Leiden in dieser Position sechzig Minuten auszuharren, in Realität sind es vier Stunden, können wir diese Empfindung miterleben. Shugaleev erlaubt dem Publikum, alles zu tun, dennoch scheint es, als halten die Zuschauer*innen den Atem an und trauen sich erst nach und nach es dem Performer gleich zu tun und seine Leidensposition mit ihm zu teilen.

 

Mit dem Objekttheater THE COLLECTION OF TIME IN THE POLYMER AGE von Uncertain Studio müssen wir uns kritisch mit der Verwendung von Plastik in jeglicher Form auseinandersetzen. Am Beispiel der Erdölraffinerie Kaohsiung in Taiwan erfahren wir, wie die Sicht der Anwohner und der Mitarbeiter darüber ist. Wir sehen, wie die Raffinerie aus Lego auf der Bühne aufgebaut wird – in der Betrachtung von der Tribüne aus, wirkt sie klein und unbedeutend, im Gegensatz zur Perspektive, die von der Handkamera gefilmt wird. Für die Anwohner muss die Raffinerie ein riesiges rauchendes Ungetüm gewesen sein, das zwar den Arbeitern Wohlstand, aber auch Krankheit gebracht hat. Auf musikalische, poetische und spielerische Weise setzen sich die Künstler mit diesem Problem auseinander. Im Zeitraffer werden verschiedenste Produkte aus unterschiedlichen Kunststoffverbindungen, positioniert vor der Handkamera, vorgestellt. Dieser multimediale Vortrag trifft uns direkt – wieviel Kunststoffprodukte benutzen wir jeden Tag?

 

DO YOU KNOW THIS SONG von Mallika Taneja erwies sich als eine musikalische, interaktive Performance, bei der niemand passiver Betrachter bleiben kann. Die indische Künstlerin entführt uns auf verschmitzte Weise in ihr Leben und nimmt uns mit in ihre Vergangenheit auf die Suche nach ihrer verlorenen Stimme. Die Bühne, ein schmaler Streifen zwischen den Zuschauerrängen, ist überfüllt mit kleinen, selbstgebundenen Handpuppen. Am einen Ende befinden sich ein paar Objekte, wie eine Puppe mit Sari, Kochgeschirr, Tüchern und Schnüren, außerdem Dosen, mit der eingefangenen Stimme und eingefangenen Sternen. Am anderen Ende stehen ein Mikrophon, ein Harmonium und ein Lautsprecher. Die Künstlerin fordert uns von Zeit zu Zeit auf, mit ihr zu singen. Während sie zurück in ihre Kindheit eintaucht, wird aus ihren zurückgeholten Tonsequenzen immer mehr ein schönes Lied, das sie auf dem Harmonium begleitet. Auf witzige und unterhaltsame Weise tänzelt sie auf dem „Laufsteg“ hin und her, während wir tiefer und tiefer in ihre Geschichte eintauchen. Das gemeinsame Chanten verbindet und beschwingt das gesamte Publikum.