Seraphin Flassig

Unterwegs beim SPIELART

Heimatsuche im Theater

Theater. Das besteht doch, wie es so schön heißt, aus den Brettern, die die Welt bedeuten. Wobei diese Bretter überall auf der Welt etwas anderes bedeuten. Einen kleinen Einblick in diese enorme Vielfalt des Theaters, kann man nur erhaschen, wenn man viele Reisen unternimmt. Alternativ, falls man sehr an seinem Zuhause hängt, kann man das SPIELART Theaterfestival in München besuchen. Hier kommt das Theater der Welt zu uns, damit wir es bestaunen können. Doch hat das Theater dann selbst überhaupt ein Zuhause?

Zunächst mutet die Frage nach der Heimat des Theaters kindisch an. Natürlich, es kommt aus Griechenland, würden einige wohl darauf antworten. Doch betrachtet man das menschliche Verhalten genauer, und zwar nicht nur aus einer institutionalisierten, eurozentrischen Sicht, erkennt man schnell, dass überall auf der Welt gespielt wurde und immer noch wird. Wie Schiller schon erkannte: „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Und dennoch wollte sich bei meinen Vorstellungsbesuchen kaum ein Gefühl des Internationalen Wohlbefindens einstellen.

Es begann mit THE DEVINE CYPHER und der Tänzerin, die bestimmt einen ganzen Liter Wasser auf dem Kopf balancierte, zu den Klängen tanzte, die zuerst in ihrer Heimat aufgenommen wurden. Nach dieser Vor-Eröffnung ging es in einem Wrestling Match mit beeindruckender Kinematographie um die Wohnungsprobleme der modernen Großstadt. Sehr oberflächlich waren es natürlich die kleinen Leute, denen die Wohnung entzogen wurde.

Doch schon nach diesen zwei Vorstellungen formte sich ein Schema in meinem Kopf, von dem aus meine Sicht auf das gesamte Festivals beeinflusst wurde. Sicher, die beiden Inszenierungen hatten völlig andere Ansätze und Themen. Eines verband beide dennoch.

Eine nicht existente Heimat. Das Gefühl der Heimatlosigkeit und die Sehnsucht diese wiederzufinden. Dieses Thema fand sich immer und immer wieder in fast allen besuchten SPIELART Stücken. Von Mal zu Mal nahm die emotionale Obdachlosigkeit andere Züge an, aber sie blieb präsent. Vorrangig in Vorführungen, die direkt mit einem Ort zu tun hatten. In THE VOICE OF FINGERS begleiteten wir die kaum erträgliche, aber dennoch reale Geschichte von Flüchtenden, die in Europa versuchen eine neue Heimat zu finden. Das GGGNHM, jenes auffallende Konstrukt vor der bayerischen Staatsoper, hatte in Workshops und Vorstellungen allein dieses Feld, Migration, zum Thema. Beispielsweise schilderten Geflüchtete in LEBEN IM ABSEITS ihre Situation. Ein Flüchtlingsheim, dessen festes Gebäude ein ausgedienter Bundeswehrbunker, kilometerweit entfernt von der nächsten Siedlung ist, könnten sie doch nicht neue Heimat nennen. Heimat ist nicht nur der Ort, sondern auch die Menschen. Aber wie kann Integration gelingen, wenn aus Gründen der sozialen Befriedung diese Einrichtungen inmitten von Nirgendwo stehen?

Menschen brauchen andere Menschen, um sich bei diesen zuhause fühlen zu können. Jenes Konzept der Heimat ist schon etwas abstrakter, allerdings elementarer Bestandteil des Menschseins. Ein leichterer Ansatz zu diesem Thema wählte die Inszenierung THE MAKING OF PINOCCHIO, die sich, stilvoll passend, im gleichem Maße lustig wie Ernst, mit vielen handwerklichen Kniffen und Feinheiten der medialen Gestaltung, der Thematik von Transpersonen widmete. Dargestellt wurden zwei Menschen, die Ihr ganzes Leben durch Ihre Sexualität, ihre Lebensstile oder Anderem nie ein Zuhause hatten und ihre Heimat nun in ihren persönlichen Eigenheiten und ineinander gefunden hatten.

Nicht ganz so ästhetisch, aber nicht weniger interessant, waren wiederum die Stück, welche sich mit der politischen Heimatlosigkeit beschäftigten. Beispielsweise konnte A NOTIONAL HISTORY die Geschehnisse nach der malaysischen Unabhängigkeitsbewegung aufarbeiten. Dies war möglich aus dem Grund, dass die Behörden das Theater als zu klein einstuften, um der Regierung gefährlich werden zu können. Durch verschiedenste Parallelen wurde in einer Art Lecture Perfomance die Macht der Geschichtsschreibung gezeigt. Wie viele Seiten in einem Geschichtsbuch dem Streben anderer Akteure für das gleiche Ziel gewidmet wurden, war eine in allen Sprachen verständliche Verdrehung der Geschichte. Man könnte diese Geschichtsschreibung mit der Art Vergleichen, wie in Deutschland über die RAF gelehrt wird. Ich war selbst überrascht als mir bewusst wurde, dass ich die Namen der zur Eindämmung gegründeten Einheiten kannte, die Taktiken der Attentate oder die Gesichter der Terroristen auf Fahndungsplakaten, aber kaum etwas über ihre ursprünglichen Ziele und Forderungen. Zum gleichen Thema, der politischen Verfolgung, gab es unter anderem auch eine Performance, in der ein belarussischer Künstler im Exil, die Stressposition hielt, die gefangene in seiner Heimat aufgezwungen wurde. Eine Art der Heimatlosigkeit, welche uns, die wir in einer funktionierenden Demokratie Leben, gänzlich unbekannt ist.

Allerdings gab es nicht nur negative Aspekte der Heimatlosigkeit zu erkennen, in RHAPSODY IN YELLOW zeigt sich wie international Musik sein kann. Ein Stück eines deutschen Komponisten, von einem englischen Orchester gespielt, inspiriert zusammen mit der Musik verschleppter Sklaven einen Amerikaner, dessen Werk wiederum in China zu weitreichenden Entwicklungen führt. Trotzdem wird die Musik letztendlich für nationale Interessen instrumentalisiert.

Ebenfalls sehr faszinierend sind nicht nur die Stücke, sondern auch die Lebenssituationen der Menschen, die diese erschaffen. So fragte ich einen viel gereisten und oft umgezogenen Regisseur, wie er denn damit klarkäme, in seinem Leben niemals irgendwo völlig angekommen zu sein. Sankar Venkateswaran lächelte nur und antwortete, dass man sich mit der Zeit daran gewöhne „der Andere“ zu sein und dass ihn das nicht davon abhalte sich ins nächste Risiko zu stürzen. Risikos, von denen unsereins nur Träumen kann, wie als er ein neues Theater auf dem Dach eines Hauses mitten im Dschungel Indiens eröffnete.

Gegen Ende des Festivals, dessen Ausblicke so zahlreich und schillernd waren, wie all die Kunstschaffenden, die nach München kamen, stellen sich mir zwei Fragen: Wo waren Sie und ihre Freunde als die Welt bei uns zu Gast war? Und die weitaus wichtigere Frage: Ist die Heimatlosigkeit dem Zeitgeist oder dem Theater geschuldet? Können wir überhaupt ein Zuhause in dieser schnelllebigen Welt finden oder brauchen wir überhaupt noch eines?

Nun, ich habe keine Antwort darauf, aber vielleicht, ganz vielleicht, ist mir eine in zwei Jahren, wenn Spielart wieder stattfindet, eingefallen.